Das Rascheln im Stroh

 

von

S.N. Stone

 

 

 

Vorwort


Diesen Kurz-Thriller widme ich meinen Lesern, meinen Freunden, meiner Familie und allen, die S. N. Stone unterstützen und ganz besonders auch meinen lieben Autorenfreunden.

Ich danke euch.

 

1. Kapitel


Er wurde von einem lauten Dröhnen geweckt. Sascha öffnete die Augen, aber alles um ihn herum blieb finster. Er fühlte sich benommen und ihm war übel, so als hätte er am Abend zuvor viel zu viel getrunken, nur rührte er bereits seit Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr an.
Kurz schloss er die Augen wieder und musste feststellen, dass das Geräusch ausschließlich in seinem Kopf war. Gott!, dachte er, was habe ich bloß getan?
Sein Körper war so schwer, so schwer. Er konnte sich kaum bewegen. Und diese Dunkelheit …
Sascha spürte, wie er in die Bewusstlosigkeit hineinglitt.


Kommissar Peter Maurer suchte vor der alten Stadtvilla einen Parkplatz und stieg aus. Noch während er den Pkw abschloss, besah er sich das Gebäude.
„Na es scheint dich doch zu beeindrucken“, stellte seine Kollegin fest, die ihn amüsiert über das Dach des Autos hinweg anschaute.
„Protzig“, antwortete er nur und setzte sich in Bewegung.

Er wusste genau, was ihn gleich erwarten würde, und er hatte absolut keine Lust darauf. Er kannte solche Leute und hielt nicht viel von ihnen. Er kam aus einfachen Verhältnissen und hatte sich alles erarbeiten müssen, und er war fleißig gewesen. Ein hübsches Reihenhaus am Stadtrand, einmal im Jahr eine Urlaubsreise, zwei erwachsene Kinder und eine Frau, die ihn letztes Jahr für einen jüngeren Kerl verlassen hatte.
Das hatte er sich erarbeitet. Ihm war das Glück nicht in die Wiege gelegt worden.
Die da drinnen kannten keine Geldprobleme, wussten nicht, wie das wahre Leben aussah, sondern sonnten sich im Glanz der Sorglosigkeit.

Seine Kollegin war bereits die Treppe zur Eingangstür hinaufgegangen und hatte geklingelt. Hätte sie nicht warten können? Er nahm zwei Stufen auf einmal und stand neben ihr, als eine ältere Frau öffnete.
„Guten Tag, mein Name ist Annie Maischel, Kripo Berlin“, sie hielt der Frau Marke und Dienstausweis hin, „mein Kollege Kommissar Maurer. Wir möchten gerne zu Frau Renov.“


Diese unendliche Schwärze umgab ihn auch noch, als er das Bewusstsein wiedererlangte. Das benommene Gefühl war zwar da, aber nicht mehr ganz so stark. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Er versuchte, sich zu konzentrieren; er lag auf einem Bett oder einer Liege, er hatte starke Schmerzen. Sein Gesicht und seine Augen brannten und er wollte sich mit der Hand … aber er konnte nicht, er konnte seine rechte Hand nicht zum Gesicht führen. Er war angekettet!
Panik stieg in ihm auf. Der linke Arm war frei, der Rechte nicht. Er zog und rüttelte an seiner Fessel und spürte nur, wie kaltes Metall in sein Handgelenk schnitt. Sascha versuchte sich auf die Seite zu drehen, aber die Schmerzen, die jetzt nicht mehr nur in seinem Kopf wüteten, raubten ihm die Luft zum Atmen. Er stöhnte auf.
„Aber, aber, schtscht“, vernahm er eine Stimme, „du musst ganz ruhig bleiben.“
Die Stimme einer Frau!
„Du hast lange geschlafen.“ Sie kam näher. „Hier“, er spürte, wie sein Kopf leicht angehoben wurde und sie ihm etwas an die Lippen führte, „trink das, du musst trinken.“
Wasser, es war Wasser, das ihm erst am Kinn hinab auf die Brust lief, dann, als er den Mund öffnete, in seine Kehle floss.
„Ich habe schon gedacht, du wirst gar nicht mehr wach“, die Frau kicherte.
„Warum ist es so dunkel?“, fragte er mit rauer Stimme. Es war nur ein Flüstern, mehr brachte er nicht heraus.
„Oh, es ist nicht dunkel“, die Stimme entfernte sich von ihm. „Es ist ein wunderschöner, Sommertag, sieh nur … ach nein.“ Wieder ein Kichern. „Entschuldige, das war nicht lieb von mir. Ich musste doch etwas machen.“
Etwas machen? Sascha begriff es nicht und dann doch, er war blind.


„Nehmen Sie bitte Platz.“ Katarina Renov deutete auf eine helle Sitzgruppe, die in einem, lichtdurchfluteten Salon stand.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Wasser?“
Sie lächelte zwar, aber es war ein müdes Lächeln. Peter sah die dunklen Ringe unter den geröteten Augen, die davon zeugten, dass die junge Frau nicht viel geschlafen, dafür aber umso mehr geweint hatte.
„Ein Wasser bitte“, antwortete Annie.
Peter entschied sich für einen Kaffee.
Katarina Renov nickte der älteren Frau zu, die sie hereingelassen hatte und nun aus dem Zimmer verschwand.
„Fräulein Renov“, begann er und zog seinen Notizblock und Stift aus der Tasche des Jacketts, „wir sind hier, weil Sie ihren Bruder als vermisst gemeldet haben.“
Die Frau nickte.
„Seit gestern?“ Er schaute von seinem Block auf und sah sie fragend an.
Wieder ein Nicken.
„Seit gestern Vormittag“, antwortete sie.
Peter runzelte die Stirn. „Könnte er vielleicht einfach nur nicht nach Hause gekommen sein, weil er, sagen wir mal, bei einer Freundin oder einem Freund ist?“

Da tauchte ein junger, wohlhabender Mann nicht rechtzeitig zum Mittagessen auf, und sofort wurde alles mobilisiert, um sich der Sache anzunehmen. Vielleicht hatte Sascha Renov einfach keine Lust gehabt nach Hause zu kommen.

„Ich weiß, was Sie andeuten wollen, aber da liegen Sie falsch, das habe ich Ihren Kollegen bereits erklärt. Sascha ist nicht so.“
Katarina wurde von dem Erscheinen der Hausangestellten unterbrochen, die den Kaffee und das Wasser brachte.
„Danke Ingrid“, sagte sie und wandte sich dann wieder ihnen zu. „Sascha ist zuverlässig. Er hätte gestern noch ein Meeting in der Firma gehabt, ein sehr wichtiges. Er hat das Büro verlassen um ein Rezept in der Apotheke einzulösen, danach ist er nicht mehr zurückgekehrt.“
„Kann ihm etwas dazwischen gekommen sein?“, fragte Annie.
„Wie gesagt, Sascha ist zuverlässig, er hätte unseren Onkel nicht versetzt.“
„Aber er ist jung“, brummte Peter.
Für diese Bemerkung erntete er von seiner Kollegin einen bösen Blick.
„Herr Kommissar, ich möchte Ihnen gerne etwas über meinen Bruder und unsere Familie erzählen, damit Sie verstehen. Sascha hatte nie vor in das Familienunternehmen einzusteigen, er hatte ganz andere Pläne. Als unsere Eltern vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, standen wir vor der Frage, die Firma zu schließen oder zu verkaufen. Beides hätte bedeutet, dass Hunderte Angestellte ihren Job verloren und auf der Straße gestanden hätten. Zusammen mit meinem Onkel hat Sascha entschieden, seine Pläne aufzugeben, um gemeinsam das Unternehmen weiterzuführen.“

Peter erfuhr, dass ein Betrunkener mit hoher Geschwindigkeit, frontal mit seinem Wagen in den Pkw von Anna und Boris Renov gerast war. Beide waren sofort tot gewesen.
„Sascha ist ein sehr liebevoller Mensch. Er tritt anderen immer mit Respekt und Achtung entgegen. Wir sind erzogen worden, jeden so anzunehmen, wie er ist, egal ob arm oder reich, schwarz oder weiß. Jeder hat seinen Platz in der Gesellschaft und die Putzfrau ist ebenso wichtig, wie der Chef eines großen Konzerns. Einen Teil unseres Vermögens spenden wir an gemeinnützige Organisationen. Mein Bruder setzt sich für obdachlose Jugendliche ein. Er hat einen großen Bekanntenkreis und einen kleinen Kreis sehr enger Freunde.“ Tränen traten ihr in die Augen und Annie reichte ihr ein Taschentuch. „Danke“, sagte Katarina und putzte sich die Nase. „Er ist nicht so, dass er einfach verschwindet.“

Was für eine Vorstellung. Peter gab sich wenig beeindruckt. Mit so viel Geld auf dem Bankkonto konnte man natürlich locker ein paar Organisationen unterstützen und es dann noch von der Steuer absetzen. Er machte sich Notizen.

„Sie sagten, er hatte ein Rezept einlösen wollen, was war das für ein Rezept? Ist ihr Bruder krank?“
Katarina steckte das Tuch in ihre Hosentasche und antwortete: „Ja, er leidet unter starker Migräne. Er erhält Medikamente für den Akutfall.“
„Wissen Sie, um welche Apotheke es sich handelt?“
Katarina nickte. „Sie ist in einer Querstraße am Bürogebäude. Er geht dort immer hin, weil sie günstig liegt.“
Peter notierte diese Information. Dem mussten sie nachgehen.
„Könnte er entführt worden sein?“, fragte er, ohne aufzuschauen.
„Das weiß ich nicht, vielleicht. Keine Ahnung.“
„Aber eine Lösegeldforderung haben Sie nicht erhalten.“
Katarina antwortete nicht sofort. Er sah die Frau an.
„Herr Kommissar Maurer, glauben Sie nicht, dass ich das bereits erwähnt hätte, wenn es so gewesen wäre?“ Sie war ärgerlich.
„Manchmal erzählen uns die Angehörigen nichts davon, weil sie meinen, das Problem selber lösen zu können“, sagte er versöhnlich.
„Dann hätte ich sein Verschwinden sicher auch nicht gemeldet!“
Er wackelte mit dem Kopf. „Dann hätte es vielleicht ein anderer getan, der ihn vermisst.“
„Es ist nichts dergleichen geschehen. Sascha ist verschwunden und ich mache mir große Sorgen.“


Saschas Gehirn arbeitete träge.
„Warum bin ich gefesselt?“ Wieder zerrte er an der Kette.
„Weil ich dich bei mir haben will.“
Die Stimme war ganz nah an seinem Ohr und er bekam eine Gänsehaut.
„Was willst du von mir?“
„Was ich von dir will?“ Die Stimme war nun ein Stück entfernt. „Ich will gar nichts von dir.“ Sie klang beleidigt. „Ich will dich.“
Er spürte ihre Hände an seinem Körper und hielt den Atem an. Oh Gott! Das konnte doch nicht wirklich passieren. Sie machte sich an seiner Kleidung zu schaffen. Er hörte das reißende Geräusch des Stoffes seines Shirts. Mit der freien Hand versuchte er sie abzuhalten.
„Nicht!“ Ihre Stimme war ganz schrill und sie schlug ihm ins Gesicht.
Er spürte den metallenen Geschmack seines Blutes ihm Mund. Sie riss seinen freien Arm nach hinten und fesselte auch diesen. Sie war kräftig.
„Hör auf damit!“, befahl sie. „Oder ich muss dir wieder was zum Schlafen geben. Aber das will ich eigentlich gar nicht. Ich will doch, dass wir Spaß miteinander haben.“
Sascha drehte sich der Magen um. Nur noch seine Beine waren frei, vielleicht konnte er sie irgendwie überwältigen. Er hatte solche Schmerzen, er konnte sich nicht bewegen.
Die Hände der Frau waren wieder an seinem Körper. Er spürte etwas Feuchtes. Es brannte. Sie tupfte etwas auf seine Haut.
„Du hast dich ganz doll gewehrt, als ich dich zu mir eingeladen habe. Obwohl ich dich betäubt habe. Ich habe dir aus Versehen wehgetan, das tut mir leid. Ich mache aber, dass es wieder gut wird, versprochen.“
Sie sprach so sonderbar. Irgendwie wie ein kleines Kind.
„Aber wenn du Spaß mit mir haben möchtest, warum fesselst du mich dann? Wäre es nicht besser, du würdest mich losmachen?“
Sie lachte. „Nein, nein, ich bin nicht doof, weißt du? Du brauchst noch ein bisschen Zeit. Du musst dich erst daran gewöhnen, dass du jetzt bei mir bist. Ich weiß, dass es dauern wird, aber dann wirst du mich auch so mögen, wie ich dich. Und dann kann ich dich losmachen, dann wirst du nicht versuchen wegzurennen.“

Sie war offensichtlich fertig und ließ von ihm ab. Sascha hörte, wie sie irgendetwas zusammenpackte.
„Warum hast du das mit meinen Augen gemacht?“, fragte er.
„Weil du mich nicht sehen sollst.“
„Warum nicht?“ Er riss sich zusammen. „Du bist bestimmt wunderhübsch.“
Sie kicherte. „Du bist immer so freundlich.“
Die Stimme war noch weiter weg. Er hörte, wie eine Tür geöffnet wurde.
„Ich bin krank“, rief er ihr in seiner Verzweiflung hinter.
„Ich weiß“, gab sie zur Antwort.


„Du warst unmöglich!“, raunte ihm Annie beim Verlassen der Villa zu. Sie nahm ihm die Autoschlüssel aus der Hand und eilte zum Wagen. „Ich fahre!“

„Das wird ein hartes Stück Arbeit“, stellte Peter fest, als er seine Notizen überflog.
Sie hatten sich noch Namen und Adressen diverser Freunde, Bekannter, Geschäftskollegen, Organisationen und so weiter geben lassen. Und da es sich bisher nur um eine vermisste Person handelte, nicht um eine Entführung, würde das ganze Klinkenputzen an ihnen hängen bleiben. Und all der Aufwand nur, weil die Familie Renov einflussreiche Freunde hatte.
„Der Onkel und die Apotheke sollten unsere erste Anlaufstelle sein“, sagte Annie.
Sie hielt an einer roten Ampel und griff nach dem Foto von Sascha Renov, das sie von seiner Schwester erhalten hatten.
„Hübscher Kerl“, stellte sie fest.
Peter nahm ihr das Foto aus der Hand.
„Konzentriere du dich auf den Verkehr, nicht auf diesen Schönling.“
„Was für ein Problem hast du eigentlich mit den Renovs?“
„Ich habe keine Probleme mit den Renovs, ich habe ein Problem mit Leuten wie den Renovs. Snobistische, eingebildete Schnösel.“
„Katarina war sehr sympathisch und Sascha Renov tut viel Gutes.“
„Ich kenne diese Typen, nach außen hin lächeln sie, schütteln Hände spenden ihr Geld, in Wirklichkeit sind sie verlogen und raffgierig. Meine Frau ist mit so einem durchgebrannt, wenn ich dich daran erinnern darf.“
Annie lachte auf. „Ach das ist es. Weil deine Frau die Nase voll von dir hatte, und sich in einen anderen verliebt hat, lässt du jetzt alle dafür büßen, die mehr als 10,20 € Stundenlohn haben? Peter, ich bitte dich, das kann doch nicht dein Ernst sein. Wo bleibt deine Professionalität?“
„Ich bin professionell! Vielleicht ein wenig abweisend, aber ich erledige meinen Job, so wie es sich gehört.“
„Es tut mir leid“, lenkte Annie ein, „war vielleicht ein wenig zu hart ausgedrückt. Gib der Familie eine Chance. Und Boris Renov hat sich sein Vermögen erarbeitet. Als er mit seiner Familie ins Land kam, hatte er nichts.“
Peter schaute überrascht zu seiner Kollegin rüber. „Woher weißt du das?“
Sie lächelte. „Hab ich gelesen.“
Er verzog das Gesicht. „Na da bin ich ja froh, dass du so gut informiert bist.“


Saschas Zustand wechselte von wach zu völlig weggetreten und wieder zurück. Immer hin und her. Sie war noch einmal zurückgekommen und hatte ihm etwas gespritzt. Dabei hatte sie ein Kinderlied gesummt. Er konnte nicht sagen welches, er kannte es aber.
Es verfolgte ihn, wenn die Unendlichkeit ihn in seine Arme schloss. Wenn er wach war, versuchte er zu überlegen, was geschehen war.
Er hatte zur Apotheke gehen wollen. War er dort angekommen? Er hätte noch ein Geschäftsgespräch am frühen Nachmittag gehabt. Das hatte er verpasst. Das war ungewöhnlich für ihn, so etwas tat er nicht. Sicher waren sie schon auf der Suche nach ihm. Aber wo sollten …

Er wurde wieder wach. Was waren seine letzten Gedanken gewesen? Er wusste es nicht. Seine Augen brannten, sein Körper schmerzte. Was hatte sie mit ihm angestellt? Er war nicht übermäßig groß, ganz normal, war schlank, trieb ab und zu ein wenig Sport. Sicher war er kein muskelbepackter Kerl, aber er war ein Mann, sie eine Frau. Wie hatte sie ihn überwältigen können? Sie hatte ihn betäubt, hatte sie gesagt. Dafür hatte sie sicher ziemlich dicht an ihn herankommen müssen. Aber er hatte bestimmt nicht vermutet, dass diese Frau etwas Böses im Schilde führte. Sie schien kräftig zu sein, das hatte er zu spüren bekommen und sie …

Als er diesmal erwachte, kam zu den Schmerzen, die er aus den letzten Stunden? Tagen? … wie lange lag er hier? War man schon auf der Suche nach ihm? War es Tag oder Nacht? Die Finsternis war nicht mehr ganz so undurchdringlich. Es war nicht mehr diese tiefe Schwärze, es war eher dunkelgrau. Vielleicht würde er irgendwann wieder sehen können.
Der Schmerz, der Schmerz. Sascha konzentrierte sich, dieser Schmerz war ein ihm wohlbekannter, ein Begleiter seit vielen Jahren, aber er war kein Freund. Er hatte Angst, er kam, ganz langsam schlich er an seinem Nacken empor in seinen Kopf. Wie stark würde der Anfall werden? Jetzt müsste er seine Medikamente nehmen. Jetzt müsste er …


Anton Renov war ein Mann stattlicher Natur und ein ganz leichter russischer Akzent hallte mit seinen Worten von den Wänden des riesigen Eingangsbereichs des Firmensitzes wieder. „Folgen Sie mir doch bitte ins Büro“, forderte er Peter und Annie auf.
Das Büro war ebenfalls groß und modern eingerichtet. Peter hätte nicht vermutet, dass dieser mittlerweile in die Jahre gekommene und ergraute Mann, seine Tätigkeit in so einer Umgebung nachkam. Alte, schwere Holzmöbel; mächtiger Schreibtisch, große, dunkle Regale, Teppiche auf dem Boden, das hätte er ihm viel eher zugetraut.
„Nehmen Sie Platz. Das ist Saschas Büro“, erklärte er und ließ sich auf einem einfachen, schwarzen Ledersessel nieder. „Ich dachte, Sie wollten es vielleicht sehen.“
Eine Blondine kam herein und stellte ein Tablett mit Getränken auf den Glastisch zwischen ihnen. Sie verschwand wortlos, so wie sie gekommen war, und Peter überlegte, wie klischeehaft dieser Auftritt auf ihn wirkte, während er ihr hinterherschaute.
„Haben Sie schon eine Spur?“, fragte Renov.

Warum fragten die Leute das immer? War es ein Automatismus, den man nicht abstellen konnte? So, wie man Gesundheit sagte, wenn jemand nieste?
Ihr Auto wurde bei einem Überfall als Fluchtfahrzeug benutzt. … Haben Sie schon eine Spur? Der Dieb ist in Richtung Innenstadt geflohen. … Haben Sie schon eine Spur? Das Brot ist leider ausverkauft. … Haben Sie schon eine Spur?

„Bisher nicht“, antwortete Peter, bewusst freundlich.
Annies Handy klingelte. Sie entschuldigte sich und zog sich zurück.
„Darf ich offen mit Ihnen reden?“
Renov nickte.
„Es fällt mir nicht leicht, zu glauben, dass Ihrem Neffen etwas zugestoßen ist. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben bereits erfahren, dass er zuverlässig und beständig ist. Könnte es nicht dennoch sein, dass er sich einfach mal die Freiheit genommen hat, sich wider seines sonst so verantwortungsbewussten Lebensstils zu verhalten. Vielleicht hat er eine Freundin, von der niemand etwas weiß und ist bei ihr.“
Peter fand, dass er das ganz gut gemacht hatte, freundlich.
„Sascha ist ein junger Mann und diese Vermutung Ihrerseits ist sicher nicht unbegründet. Sie kennen ihn jedoch nicht.“
Ja, das hatte schon die Schwester zu bedenken gegeben.
„Er hat mit mir diese Firma aufrechterhalten, um die Arbeitsplätze zu sichern.“
Ja, das wusste Peter auch schon.
„Er hatte ursprünglich geplant, in die USA zu gehen und dort als Fotograf zu arbeiten. Er hat es nicht getan. Eine Freundin, von der wir nichts wissen? Nein, er hätte es uns erzählt. Er war lange Zeit mit einem Mädchen zusammen, das kurz vor dem tödlichen Unfall meines Bruders und meiner Schwägerin verstorben ist, Hirnschlag, haben die Ärzte gesagt. Ihr Tod hat ihn sehr mitgenommen, er hatte danach keine feste Beziehung mehr.“
Das war neu.
„Hat jemand einen Vorteil, wenn Sascha nicht mehr auftaucht?“
„Nein, es gibt nur Nachteile. Ich kann das Unternehmen nicht alleine leiten, es müsste verkauft werden und ich hätte keinen Gewinn dadurch. Ich bin hier angestellt.“
Aha, Anton Renov hatte die Andeutung verstanden.
„Könnte Katarina seine Position nicht übernehmen?“
„Firmenpolitisch wäre das durchaus möglich, aber sie würde es nicht tun.“
„Warum nicht?“, fragte Peter.
„Sie hat eine kleine Galerie. Sie unterstützt junge, noch unbekannte aber sehr begabte Künstler. Sie würde niemals hier arbeiten.“
„Hatte Ihr Neffe Feinde?“
„Das zu verneinen wäre sicher dumm. Aufgrund unseres Standes und dem vorhandenen Vermögen mag es sicher Neider geben. Aber offene Anfeindungen, wie Sie sie meinen, gab es meines Wissens nach nicht. Sascha ist etwas ganz Besonderes. Er ist ein sehr guter Geschäftsmann und kann knallhart verhandeln, aber er hat ein Händchen für Menschen.“
„Gab es in letzter Zeit vielleicht jemanden, den er entlassen musste, dessen Unmut er sich deshalb zugezogen hat?“
Anton Renov überlegte. „Es gab vor drei Monaten eine Entlassung, die habe jedoch ich veranlasst.“
Annie kam zurück.


Saschas bekam das Zittern seines Körpers nicht unter Kontrolle. Die Stimme kam zurück und zum ersten Mal war er dankbar dafür, denn sie schob ihm eine Tablette in den Mund und gab ihm zu trinken, damit er sie herunterschlucken konnte. Danach wurde es besser und er hatte die Vermutung, dass es eines seiner Medikamente war. Wo auch immer sie es herhatte. Vielleicht war er ja doch in der Apotheke gewesen. Er hatte auch noch einen Rest dabei gehabt. Und wieder summte sie dieses …

Als er das nächste Mal wach wurde, stellte er fest, dass sie seinen linken Arm von der Fessel befreit hatte. Er betastete vorsichtig erst sein Gesicht, dann seinen Körper. Es fühlte sich nicht gut an. Er hielt den Atem an und versuchte herauszufinden, ob sie da war, ob er irgendetwas hörte, was darauf hindeutete. Nichts, es war total still. Warum war er bisher nicht auf die Idee gekommen zu schreien? Um Hilfe zu rufen? Es war so schwer, die Augen offen zu halten. Warum bemühte er sich eigentlich darum? Er konnte doch sowieso nichts sehen. Um Hilfe rufen!, er musste an diesem Gedanken festhalten. Er durfte ihm nicht entgleiten, so wie die anderen. Um Hilfe rufen …


Peter schüttelte den Kopf.
„Was ist los?“, fragte Annie.
„Oh man, eine Familie voller Engel“, antwortete er sarkastisch. „Sascha Renov müsste eigentlich heiliggesprochen werden. Ich kann das nicht glauben.“
Sie waren wieder draußen und Annie schaute die Straße entlang.
„Laufen wir zur Apotheke?“
Peter nickte, war ja nicht ganz so weit.
„Hör endlich auf damit Peter! Ehrlich, vielleicht ist er wirklich so ein netter Kerl. Lass uns herausfinden, was geschehen ist. Wenn du so weiter machst, hast du eine Dienstaufsichtsbeschwerde am Hals, das kann ich dir sagen.“
Peter brummte zur Antwort nur.

Ja, er würde sich zusammenreißen. Warum sollte der Junge darunter leiden, dass sich seine Frau gestern gemeldet hatte, ganz unverhofft, um ihm mitzuteilen, dass sie die Scheidung eingereicht hatte. Und um ihm zu sagen, dass sie die nächste Woche schwer zu erreichen sei, da sie mit der Jacht ihres Neuen vor Sanremo lag.

Das Betreten der Apotheke wurde mit einem Pling der Türglocke begleitet. Peter schaute sich um. In einer Ecke war ein Mädchen damit beschäftigt, Badezusätze in ein Regal einzuräumen. Sie drehte sich kurz um und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu.
Aus einem angrenzenden Raum, der mit einem Vorhang vor neugierigen Blicken geschützt war, trat eine Frau in einem weißen Kittel. Sie nahm ihre Lesebrille ab und stellte sich hinter den Tresen.
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie lächelnd.
Peter und Annie gingen etwas näher heran. Diesmal war es an ihm Dienstmarke und Ausweis vorzuzeigen und sie vorzustellen.
„Kriminalpolizei?“, die Apothekerin schaute sie erschrocken an. „Ist etwas geschehen?“
Peter legte das Foto von Sascha vor sie.
„Frau ...“ Er suchte nach einem Namensschild auf dem Kittel.
„Schneider“, antwortete die Frau. „Ich bin die Inhaberin.“
„Frau Schneider, kennen Sie diesen Mann?“
Sie nahm das Bild in die Hand, setzte die Brille wieder auf und begutachtete es. Sie nickte gedankenverloren.
„Ja, das ist Herr Renov, er ist Stammkunde bei uns. Ist ihm etwas zugestoßen?“
„Das wissen wir nicht, er ist verschwunden.“
„Oh“, entfuhr es der Frau.
„War er gestern Vormittag hier, um ein Rezept einzulösen?“, fragte Annie.
Frau Schneider überlegte. „Ich war gestern erst am Nachmittag im Laden, meine Angestellte hatte Schicht. Ich kann es Ihnen gar nicht sagen. Sie hat frei. Aber warten Sie, ich schaue in den Computer, dort müsste eigentlich vermerkt sein, wenn er sein Rezept eingelöst hat.“
Sie wandte sich der Tastatur zu, tippte etwas ein und starrte auf den Bildschirm.
„Nein“, sie schüttelte den Kopf, „er hat nichts abgeholt.“
„Vielleicht ist es nicht dazu gekommen“, bemerkte Peter.
„Ich kann Susanne fragen. Sie ist fast jeden Tag hier und hilft mir. Augenblick. Susanne!“
Das Mädchen an den Regalen drehte sich um.
„Komm doch bitte mal kurz rüber.“
Langsam und behäbig legte sie die Sachen, die sie in der Hand hielt ab und kam zu ihnen.
„Susanne, das sind Polizeibeamte und sie haben eine Frage an dich.“ Frau Schneider nickte der jungen Frau aufmunternd zu.
Susanne lächelte ihn und Annie tumb an.
„Hast du diesen Mann gestern hier gesehen?“
Annie gab ihr das Bild.
Sie griff es mit ihren dicken Fingern und besah es sich, dann sagte sie: „Nein, er war nicht hier“, und kicherte.
„Bist du dir sicher?“, fragte Annie.
Das Mädchen nickte furchtbar doll mit dem Kopf.
„Jaaaa, ich freue mich doch immer, wenn er kommt. Er ist so nett.“
Ihr feistes Gesicht wurde ein ganz klein wenig rot und sie gab das Foto zurück.
„Danke Susanne“, sagte Peter und sie kehrte zu ihren Regalen zurück.
„Sie ist ein wenig zurückgeblieben, aber sehr lieb und fleißig. Ich lasse sie hier arbeiten, es macht ihr Spaß und auch die Kunden mögen sie gerne. Sie ist der gute Geist des Ladens.“ Die Apothekerin lächelte.
„Danke Frau Schneider. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, oder ihrer Angestellten, melden Sie sich bei uns.“ Peter reichte ihr eine Karte mit Telefonnummer.
„Das werde ich tun. Ich hoffe, Sie finden ihn, wirklich ein sehr netter Junge.“

„Hat er es gar nicht bis hier her geschafft?“, murmelte Peter.
„Bevor ihm was geschehen ist?“
„Keine Ahnung. Anton Renov hat gesagt, dass diese Medikamente sehr wichtig für Sascha sind.“
Sie gingen langsam zurück zum Auto.
„Du glaubst also doch, dass ihm etwas zugestoßen ist?“
Peter schaute seine Kollegin böse an. „Ja“, brummte er, „vielleicht. Was ist, wenn er sich entschieden hat, aus Berlin zu 'flüchten' und doch seine Pläne von einer Karriere als Fotograf in New York zu verwirklicht?“
„Unwahrscheinlich. Es gab in seinem Büro keinerlei Hinweise auf irgendetwas Außergewöhnliches. Der Telefonanruf vorhin; keine Einlieferung in ein Krankenhaus, keine Leiche in der Gerichtsmedizin, kein Flug oder sonst irgendetwas von Sascha Renov.“
„Und sein Wagen steht auch noch in der Tiefgarage der Firma.“
Sie hatten ihren Dienstwagen erreicht und stiegen ein.


War sie hier? Er hörte sie atmen.
„Bist du da?“
Oder doch nicht? Sascha wollte das alles nicht mehr, er wollte hier weg. Er schrie, er schrie um Hilfe …


Peter saß an seinem Schreibtisch auf der Dienststelle. Es war spät und nur vereinzelt sah man Kollegen, die wie er, bei eingeschalteter Schreibtischlampe, in dem sonst dunklen Räumen hockten. Nichts zog ihn nach Hause, und da es keinen gab, der Lust hatte, mit ihm ein Bier trinken zu gehen, hatte er es sich hierhin mit einem eigentlich ungenießbaren Kaffee aus der Maschine im Pausenraum zurückgezogen.
Er musste noch ein paar Berichte schreiben, eine Arbeit, die niemand gerne machte. Konzentrieren konnte er sich darauf nicht. Seine Gedanken schweiften immer zu Sascha Renov.
Er war und blieb verschwunden.
Aus der obersten Chefetage war die Anweisung gekommen, ihn per Vermisstenanzeige im ganzen Land und über die Medien suchen zu lassen. Ab morgen früh würde sein Gesicht die vielen Nachrichtensendungen, Boulevardmagazine, Zeitungen und was es sonst noch so gab, zieren.
Peter hatte gar keine Lust darauf, erschwerte es doch ihre Arbeit. Hunderte Anrufe von Leuten, die glaubten, einen der begehrtesten Junggesellen eben gesehen zu haben.
Als ich den Müll runter gebracht habe, da saß er auf dem Hof … Ich bin mir ganz sicher, ihn gerade beim Bäcker gesehen zu haben … Ich habe gestern mit meinem Bro Sasch abgefeiert, jetzt liegt er komatös auf meiner Couch.
Es war schwer eventuelle, tatsächlich dienliche Hinweise unter all denen der Spinner und Wichtigtuer herauszufiltern, so es denn überhaupt welche gab.

Peter fuhr sich durch die Haare und lehnte sich zurück. Er griff seinen Becher und trank einen Schluck von dem mittlerweile erkalteten, bitteren Gesöff. Sein Blick fiel auf das Foto, das gerahmt, zwischen all den Papieren, auf seinem Schreibtisch stand. Seine beiden Kinder, seine Frau und er. Auf Mallorca, glücklich als Familie vereint, lachend am Strand.
Wütend stieß er es um.

Also, wenn man davon ausging, dass Sascha wirklich etwas zugestoßen war, dann musste es auf dem Weg zur Apotheke geschehen sein. Vielleicht hatte ja doch jemand etwas beobachtet und der Aufruf in den Medien würde etwas ergeben.
Er fuhr seinen Computer hoch und gab den Namen Sascha Renov in eine Suchmaschine ein. Umgehend wurde ihm eine Flut von Meldungen angezeigt. Er überflog die Überschriften, klickte sich durch ein paar Meldungen und musste feststellen, dass sich die Berichterstattung in den letzten sieben Jahren sehr verändert hatte.
Ältere Beiträge zeugten davon, dass Sascha doch nicht so ganz heilig war, wie es Peter weisgemacht worden war. Mit Anfang zwanzig hatte der Renov-Sprössling gerne gefeiert, sich auf diversen Events und Veranstaltungen gezeigt, immer mit wechselnden Damen an seiner Seite. Darunter waren auch kleinere Sternchen und sogar eine international bekannte Sängerin.
Dann ein Bruch. Weniger Partys, mehr karitative Veranstaltungen. Immer dieselbe Frau an seiner Seite; Jenine Schelter.
Gerüchte um Verlobung, Heirat, Schwangerschaft. Die Mitteilung über ihren Tod.
Peter machte sich eine Notiz. Er wollte mehr über diese Frau und ihr plötzliches Ableben in Erfahrung bringen.
Hatte es erkennungsdienstliche Maßnahmen gegen Sascha gegeben? Was war mit Bundeszentralregistereintragungen? Notiert!
Er schaute auf die Uhr, kurz vor zwölf. Er sollte jetzt Schluss machen.


2. Kapitel


Die Schmerzen in seinem Körper waren nicht weg, die in seinem Kopf aber zu ertragen, dafür war diese undurchdringliche Schwärze wieder da, wenn er die Augen öffnete.
Seine Bewegungsfreiheit war erneut eingeschränkt, beide Handgelenke waren angekettet und es gab noch etwas, das in Sascha das pure Grauen weckte; er lag nicht mehr alleine auf dem Bett, sie lag bei ihm!
Ganz dicht, an ihn gekuschelt, einen Arm auf seiner Brust. Ihr Atem ging langsam und regelmäßig, sie schlief.
Sascha drehte angewidert seinen Kopf in die andere Richtung. Er versuchte, von ihr wegzurutschen, es ging nicht? Er schluckte schwer. Er glaubte, sich übergeben zu müssen. Er hatte das Gefühl, jemand würde ihm die Luft abschnüren, als würde er nicht genug Sauerstoff in seine Lungen pumpen können.
Die Panik überkam ihn erneut. Alles war so eng in seiner Brust. Sie lag so dicht neben ihm. Sascha wünschte sich mit einem Mal, an Gott zu glauben, dann hätte er jetzt beten und darin Trost finden können.


Peter war in der Galerie von Katarina Renov. Annie war zu ein paar Freunden von Sascha gefahren, um mit ihnen zu reden. Sie hatte ihm das Versprechen abgenommen, sich gut zu benehmen.

Katarina stand ihm mit vor der Brust verschränkten Armen gegenüber und beäugte ihn abweisend.
„Ich habe noch ein paar Fragen an Sie“, begann er das Gespräch. „Ich habe mich ein wenig über ihren Bruder erkundigt. Er hatte Probleme.“
Sie nahm die Arme herunter.
„Kommen Sie mit“, sagte sie und es klang resignierend.
In einem kleinen Büro setzten sie sich.
„Ist das für Ihre Suche wichtig?“, fragte sie.
„Vielleicht hat ihn seine Vergangenheit eingeholt.“

Peter hatte Interessantes in Erfahrung gebracht; Sascha war einige Male mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Drogen und Alkohol hatten ihn bis kurz vor den Richter gebracht. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Drogenbesitzes war jedoch urplötzlich eingestellt worden. Er vermutete, dass Boris Renov seine Hand im Spiel gehabt hatte.

„Er war jung-“
„Das entschuldigt nichts“, fiel er ihr ins Wort. Peter schüttelte verständnislos den Kopf.
„Er hat nie jemand anderen da mit hineingezogen“, sagte sie.
„Nein, es hatte eher etwas Selbstzerstörerisches an sich.“
Katarina nickte. „Es war nicht gut für seine Krankheit. Jenine kam im richtigen Moment, sie hat ihn verändert, ihm Halt gegeben.“
„Ich dachte, in ihrer Familie hätte es genug Halt gegeben.“
„Das habe ich nie behauptet, auch nicht, dass wir unbefleckt sind.“
Stimmte, hatte sie nicht, aber er hatte es so interpretiert.
„Mit Jenines Erscheinen wurde er ruhiger, alles wurde gut. Und dann starb sie und ich habe geglaubt, er würde es nicht verkraften und wissen Sie was?“ Sie schaute ihn mit großen Augen an. „So makaber es auch klingen mag, der Tod unserer Eltern hat ihn wahrscheinlich davon abgehalten eine Dummheit zu begehen.“
Peter musste wohl einsehen, dass auch die Schönen und Reichen ihr Päckchen zu tragen hatten. Vielleicht war doch nicht alles Gold, was glänzte.
Mit einer Weichheit in der Stimme, die ihn selbst überraschte, fragte er: „Könnte er jetzt diese Dummheit begangen haben?“
Es war keine Leiche in der Gerichtsmedizin aufgetaucht, aber vielleicht hatte man ihn einfach noch nicht gefunden.
„Warum gerade jetzt?“, fragte sie.
„Ich weiß es nicht.“
„Nein, nein. Es gab keinen Grund dafür. Alles lief gut.“
„Und Freunde von damals? Kann jemand in seinem Leben aufgetaucht sein, dem nicht gefällt, was er getan hat oder jetzt tut?“
Peter hatte die Idee von der Entführung nicht ganz beiseitegeschoben, obwohl die fehlende Lösegeldforderung eigentlich dagegen sprach, dachte sogar an einen Mord.
Katarina schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Er war ja auch früher kein schlechter Mensch.“
Sie nahm ihn immer in Schutz.


„Du musst aber was essen!“ Sie hielt ihm etwas vor den Mund.
Sascha drehte den Kopf weg.
„Iss das Jetzt!“
Er musste würgen.
„Iss!“
Er konnte nicht. Sie rammte ihm die Faust in die Rippen.
„Iss!“
Die Faust landete in seinem Gesicht und er hoffte, er würde einfach wieder das Bewusstsein verlieren.
„Ich habe keinen Hunger“, flüsterte er.
Sie strich ihm über die Wange. „Aber das ist doch wichtig. Du brauchst das, um gesund zu werden.“ Ihre Stimme war plötzlich ganz sanft. „Du bist ja so heiß. Du wirst doch hoffentlich kein Fieber bekommen?“
Sie fingerte wieder an ihm herum.
Er hatte offene Wunden, das hatte er ertasten können.
„Ich werde dir was geben.“
„Nein! Bitte nicht!“, flehte er. „Bitte, ich brauche einen Arzt. Bitte bring mich zu einem Arzt.“
„Nein“, sie kicherte wieder, „ich kann das, ich habe gut aufgepasst.“
Was sie mit ihm anstellte, wusste er nicht, wollte er auch gar nicht wissen. Es tat weh, sehr weh und irgendwann spürte er gar nichts mehr.


„Sie hat zugegeben, dass er nicht immer so hochanständig war.“ Peter biss in seinen Döner.
„Was gibt es denn da zuzugeben? Wenn du dich weiterhin so ungesund ernährst, wirst du bald gesundheitliche Probleme bekommen.“
Er hörte auf zu kauen und schaute Annie an. Musste sie ihm alles vermiesen? Er wischte sich den Mund ab und trank einen Schluck Cola.
„Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass sein Verschwinden etwas damit zu tun hat?“ „Natürlich, aber wie bringt es uns weiter?“
Peter zuckte mit den Schultern und wendete sich wieder seinem Essen zu.
„Was haben die Freunde gesagt?“, fragte er mit vollem Mund.
Annie verzog das Gesicht. „Nicht viel. Sie haben bestätigt, was wir schon wissen. Keiner hat was von ihm gehört. Ich habe natürlich nicht alle aufgesucht, aber zwei Beamte wurde uns zugeteilt, die haben weitere Besuche gemacht. Auch nichts.“
„Und die Medien?“
Annie lachte. „Jaaaaa, das Übliche.“
Es war zum Haareraufen. Der Junge war jetzt fast 48 Stunden verschwunden und der einzige Anhaltspunkt, den sie hatten, war der Weg vom Firmensitz zur Apotheke.
Peter schmiss den Rest seines Döners in den Müll und leerte die Dose. So langsam machte er sich Sorgen um ihn.


Eigentlich wollte Sascha gar nicht mehr aufwachen. Er wehrte sich dagegen, aber es half nichts. Er konnte schon nicht mehr unterscheiden, welche Schmerzen von ihr kamen, und welche Schmerzen von seinem Migräneanfall herrührten. In ihm herrschte ein Krieg.
Gut, den Kampf nicht mehr aufwachen zu wollen, hatte er verloren.
Etwas hatte sich verändert. Vorsichtig richtete er sich auf. Er war noch angekettet, mit beiden Armen, hatte aber mehr Bewegungsfreiheit, hörte, wenn er sich bewegte, das Rasseln von Ketten. Er spürte eine Wand an einer Seite. Vorsichtig tastete er seine Umgebung ab. Er saß auf dem Boden, an einer Wand, auf einer Matratze. Er befühlte seinen Körper. Er hatte ein neues Shirt an. Seines war kaputt gewesen, dieses hier war heil, roch sogar frisch gewaschen. Sascha fuhr sich über das Gesicht. Es war rasiert.
Er hätte es als freundliche Geste der Stimme annehmen können, konnte er aber nicht. Viel zu sehr erschreckte ihn die Tatsache, was sie alles mit ihm anstellte, wenn er nicht bei Bewusstsein war.

Sie kam, er hörte sie summen, noch bevor sie im Zimmer war. Die Tür wurde geöffnet, das Summen wurde lauter.
„Du bist ja wach.“ Sie klang fröhlich. „Das ist schön. Freust du dich?“
Sie ließ sich neben ihm auf die Matratze fallen.
„Warum tust du mir das an?“ Er hätte heulen können.
„Aber ich tu dir doch gar nichts. Ich will nur, dass es dir gut geht. Ich will, dass wir zusammen sein können.“
„Aber ich will nicht hier sein“, flüsterte er. „Lass mich gehen, bitte.“
„Du wirst es bald wollen. Ich kümmere mich um dich. Ich passe auf dich auf.“
„Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst.“
„Doch!“
Er spürte ihre Bewegung und wartete darauf, dass ihre Faust ihn traf, aber sie schlug auf die Matratze.
„Wenn ich dich hier raus lasse, dann gehst du zu deiner Freundin und sie wird dir nicht guttun. Sie wird sich nicht um dich kümmern. Sie ist nicht gut genug für dich! Sie liebt dich nicht, so wie ich.“
Sascha Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er hatte Angst vor dieser Frau. Er bemühte sich, sich zusammenzureißen. Was erzählte sie da eigentlich? Er musste sie beruhigen.
„Ich habe keine Freundin“, sagte er leise.
„Lüg mich nicht an!“
„Das tue ich nicht.“
„Ich habe euch gesehen, wie ihr aus dem Gebäude gekommen seid, diese Blonde.“
Sascha überlegte krampfhaft, wen sie meinte.
„Meine Schwester?“
„Nein! Deine Schwester kenne ich.“
Sie kannte seine Schwester?
„Diese blonde Frau, die den roten Wagen fährt.“
Jetzt wusste er, wen sie meinte.
„Das ist nicht meine Freundin. Das ist eine Studentin, die in der Firma jobbt. Woher kennst du meine Schwester?“
Sie stand auf. „Ich bin schon ganz lange in deiner Nähe.“
Verdammt, wer war sie?
„Ich weiß ganz viel über dich.“
Sie war schon lange in seiner Nähe, sie kannte ihn, er musste sie auch kennen.
„Warum ich!“
Die Stimme war wieder an seinem Ohr.
„Du bist so nett. Noch nie war ein Junge so nett zu mir wie du.“


Jenine Schelter war in der gemeinsamen Wohnung, vor den Augen von Sascha Renov einfach tot zusammengebrochen. Peter hatte sich den Obduktionsbericht besorgt. Alles deutete auf einen Hirnschlag hin, so wie es Anton Renov gesagt hatte.
Nicht, dass er wirklich daran gezweifelt hätte, aber er hatte ganz sichergehen wollen, denn nun saß er in der Küche von Jenines Eltern und sah Frau Schelter beim Kaffeekochen zu.
„Der Verlust war sicher nur schwer zu verkraften“, sagte er und musste an seine eigenen Kinder denken.
Die Frau setzte sich zu ihm.
„Ja das war es, ist es immer noch. Sie war so ein fröhliches und freundliches Mädchen.“
„Was war mit Sascha?“
„Oh er ist ein netter Junge. Wir haben auch heute noch Kontakt zu ihm. Ab und zu kommt er uns besuchen. Es ist furchtbar, dass er verschwunden ist. Als ich heute Morgen die Nachrichten gesehen habe, konnte ich es nicht glauben.“
Der Mediensturm hatte begonnen. Die Presse hatte die Dienststelle belagert, als er zur Arbeit gekommen war.
„Glauben Sie, ihm ist etwas zugestoßen?“
Peter schaute Frau Schelter an, sie schien ernsthaft besorgt.
„Das wissen wir nicht“, antwortete er. „Wir sind dabei, es herauszufinden. Haben Sie oder ihr Mann oder jemand anderes, der Ihrer Tochter nahegestanden hat, vermutet, dass Sascha etwas mit dem Tod von Jenine zu tun gehabt haben könnte?“
Sie schaute ihn mit großen Augen an. „Nein! Niemals!“
Sie stand auf, holte Kaffee und Tassen und kehrte zurück.
„Er hat sie geliebt, sie hatten Pläne. Er war ein wenig wild, als sie zusammengekommen waren, aber das hatte sich schnell gelegt. Er ist ein unglaublich lieber Mensch. Er hätte ihr niemals etwas angetan. Die Ärzte haben auch eindeutig festgestellt, dass ...“ Die Frau schluckte schwer, musste sich sammeln. „... dass Jenine an einem ...“ Sie konnte nicht weiter reden.
Verständnisvoll tätschelte Peter ihre Hand.


Sascha ging es ein wenig besser. Zwar glaubte er wirklich, Fieber zu haben, und auch sein Anfall war nicht vorüber, aber irgendwie meinte er, mehr erkennen zu können, wenn er die Augen auf hatte. Es waren nur leicht schemenhafte Eindrücke, aber nicht mehr diese eintönige Dunkelheit.
Sie war nicht da, hatte ihn alleine gelassen und er war froh darüber.
Er musste sie kennen. Er musste sie einfach kennen. Wer war sie?
Es schien ihm so unglaublich wichtig zu sein, zu wissen, mit wem er es hier zu tun hatte. Vielleicht, so überlegte er, damit sie kein gesichtsloses, namenloses Monster mehr war. Ihre Stimme, er konnte sie niemandem zuordnen. Die Art, wie sie sprach, sie war einfach, kindlich. Er kannte niemanden, der so sprach.
Das Lied, das sie immer summte, es wollte ihm partout nicht einfallen, wie es hieß.
Verdammt! Gut, sie flippte immer dann aus, wenn er ihr widersprach oder besser, wenn sie den Eindruck hatte, er würde sie nicht … Es schüttelte ihn, er konnte dieses Wort in Bezug auf sie nicht einmal denken. Was stellte sie mit ihm an, wenn er nicht bei Bewusstsein war?
Das Pochen in seinem Kopf wurde wieder stärker und er schloss die Augen.


Annie und er waren auf dem Weg zur Stadtvilla der Renovs. Sie wurde von der Presse belagert und ein paar Polizeibeamte waren dorthin geschickt worden, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
„Und?“, fragte sie.
„Er hat Jenine geliebt, sie mögen ihn sehr, haben heute noch Kontakt zu ihm und sind ganz aufgewühlt, weil er verschwunden ist.“
„Und dein Eindruck?“
„Sie sagt die Wahrheit.“
Annie nickte.
„Und bei dir?“, fragte Peter.
„Nichts. Super Chef, freundlich, beliebt, manchmal ein wenig unkonventionell.“
Peter runzelte die Stirn. „Unkonventionell?“
„Ich habe unter anderem mit der Blonden gesprochen, die uns die Getränke gebracht hat. Nicole Kaiser. Sie ist Studentin, die in der Firma jobbt. Sie ist Sascha Renovs Assistentin. Frau Kaiser hat erzählt, dass er manchmal mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt-“
„Sehr unkonventionell“, stellte Peter amüsiert fest.
„Lass mich doch mal aussprechen!“ Sie knuffte ihm in die Seite. „Also weiter. Dass er gerne mal an Meetings in T-Shirt und kurzer Hose teilnimmt, die Angestellten ihn beim Vornamen nennen, er nach Feierabend zum Bier einlädt, und solche Dinge.“
„Das ist nicht unkonventionell, sondern Mitarbeiterpsychologie“, brummte Peter. „So suggeriert er, dass er einer von ihnen ist und sie fühlen sich ihm verbunden und erledigen die Arbeit gewissenhafter, sie fühlen sich verantwortlich, auch für die Firma.“
„Ich weiß, trotzdem finde ich das, für jemanden in seiner Position und bei der Größe des Unternehmens, ziemlich gut.“
Nicht ziemlich gut, sondern ziemlich schlau, dachte Peter.
„Problematisch sind seine Migräneanfälle. Es beeinträchtigt ihn bei seiner Arbeit. Was sich ja leider nicht vermeiden lässt und sein Onkel ist bemüht, das aufzufangen.“
„Also eigentlich wieder keinen Anhaltspunkt“, stellte Peter fest und seufzte.


Da er kein Gefühl für Zeit hatte, nie wusste, wie lange er weggetreten war, konnte er nicht einschätzen, ob es einen Rhythmus gab, indem sie bei ihm auftauchte.
Jetzt war sie da.
Sie sagte nicht viel, versorgte ihn mit Essen, das er nicht anrührte und Trinken, das er gerne nahm, und ließ ihn auf die Toilette.
Sie wich nicht von seiner Seite und kettet ihn auch dort an. Dass sie immer dabei war, wenn er pinkelte, war schlimm für ihn. Es verstärkte dieses Gefühl, ihr vollkommen ausgeliefert zu sein.
Es war anstrengend die Schritte zu gehen, und er war froh, dass sie ihn gleich danach alleine ließ.

Am Abend, er stellte fest, dass er mittlerweile in der Lage war zu erkennen, wann es dunkel wurde, gab sie ihm noch einmal seine Tabletten und verabreichte ihm wieder irgendetwas. Er merkte noch, wie sie sich neben ihn legte, dann wurde es schwarz.


3. Kapitel


Es war egal, alles war egal. Sascha konnte und wollte nicht mehr. Er dämmerte vor sich hin und wünschte sich, zu sterben.
Das Summen, sie kam. Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh … Ihm fiel endlich ein, wie das Lied hieß.
„Ich habe dir deine Medikamente besorgt. Die, die du dabei hattest, waren alle“, sie kicherte. „Und ich habe noch ein bisschen was anderes mitgebracht; was gegen Fieber, was gegen Schmerzen, was zur Beruhigung.“
„Ich weiß, wer du bist“, flüsterte er.


Peter erhielt einen Anruf auf seinem Handy. Die Apothekerin hatte sich auf der Dienststelle gemeldet, da sie ihn nicht hatte erreichen können. Sie wollte ihn und seine Kollegin aber unbedingt sprechen.
So wendete er den Wagen und fuhr dorthin.
Er stellte das Auto auf dem Parkplatz vor der Apotheke ab und Annie und er eilten in den Laden von Frau Schneider.

„Ich habe sie dabei erwischt, wie sie sich an den Medikamentenvorräten zu schaffen gemacht hat. Als sie mich bemerkt hat, ist sie weggerannt. Aber das ist nicht alles, sehen Sie hier.“ Die Frau drehte den Bildschirm des Computers, sodass sie beide ihn sehen konnten, und deutete auf einen Eintrag.
„Das Rezept von Sascha Renov ist kurz zuvor eingelöst worden. Nur war er nicht hier. Lediglich Susanne und ich waren in den Räumen.“


Sie fuhren mit Blaulicht zur Wohnung von Susanne Wischniewski. Streifenwagen waren ebenfalls auf dem Weg dorthin.

Auf ihr Klopfen wurde nicht geöffnet, auch nicht auf den Hinweis, dass die Polizei da sei und sie öffnen solle. Also verschafften sie sich Zutritt.

Es war nur ein Verdacht gewesen, dass Susanne etwas mit Saschas Verschwinden zu tun hatte.
Als Annie und Peter jedoch die Wohnung betraten, blieb Annie die Luft weg und sie kam sich vor, wie in einem Psychothriller aus dem Fernsehen. Sie musste schlucken.


„Aber das ist doch gut, dass du dich an mich erinnerst.“ Sie streichelte ihm über die Wange und summte. „Das hier ist bald vorbei.“
„Lässt du mich gehen?“
Sie lachte. „Nein, wir gehen zusammen.“
Wieder das Lied.
„Das hat mir meine Mama immer vorgesungen, weil ich doch Susanne heiße. Dann habe ich meinen Kopf in ihren Schoß gelegt und sie hat mir über die Haare gestrichen. Ich habe meine Mama so lieb.“ Ihre Stimme klang traurig.
Es kostete Sascha große Überwindung, aber er wollte es versuchen, noch einmal versuchen, sie dazu zu bringen, ihn gehen zu lassen.
„Was sagt deine Mama dazu, dass du mich hier festhältst?“
„Ich kann es ihr nicht mehr erzählen. Ich würde es gerne machen, wenn ich könnte, sie würde es verstehen. Aber mein Papa hat sie getötet. Er hat sie vor meinen Augen erstochen und dann hat er sich erschossen. Sie wollte nicht mehr bei ihm bleiben, also hat er dafür gesorgt, dass niemand sie mehr trennen kann.“

Oh Gott! Er hatte immer gedacht, diese Mädchen aus der Apotheke sei einfach ein wenig zurückgeblieben, aber sie war irre! Total irre! Wo wollte sie mit ihm hingehen? Würde sie erst ihn und dann sich töten, um ihn nicht zu verlieren?
Sie legte ihren Kopf in seinen Schoß und summte.


Die Wohnung war karg eingerichtet, nur das Nötigste. In einer Ecke jedoch stand eine Kommode. Auf der lagen Sachen und an der kompletten Wand darüber hingen Fotos, Zeitungsberichte, Artikel, Ausdrucke, und alles hatten etwas mit Sascha Renov zu tun. Es war ein Altar.

Annie schaute sich die Sachen genauer an: ein T-Shirt, ein Pappbecher, ein Schlüsselanhänger, ein Notizbuch, eine Sammelfigur, eine CD, ein MP3-Player, ein altes Handy, ein kleines Fotoalbum und unzählige andere Dinge, sogar ein benutztes Papiertaschentuch.
Annie sah sich das Fotoalbum an. Fotos von Sascha vor der Universität, mit Freunden, wie sie feierten. Ein Foto, in dem er sein Diplom in der Hand hielt. Weiter Bilder von Freunden, von ihm, wahrscheinlich Bilder, die zum Abschluss aufgenommen worden waren.
„Das ist ja krank“, sagte Peter, der ihr über die Schulter schaute.
„Wie lange ist sie wohl schon hinter ihm her?“, fragte Annie und schüttelte den Kopf.

Susanne war nicht in der Wohnung, es fehlte jede Spur von ihr. Systematisch durchsuchten sie und die Beamten die Zimmer, auf Hinweise, wo sich die Frau aufhalten könnte.

Am frühen Abend kehrten Annie und Peter in die Dienststelle zurück. Sie wollten in der virtuellen Welt nach Susanne Wischniewski forschen.
Peter wurde recht schnell fündig, und so saßen sie zusammen an seinem Schreibtisch.
Heike Wischniewski, Susannes Mutter war, 2002 von ihrem alkoholkranken und drogenabhängigen Ehemann, vor den Augen der Tochter ermordet worden. Er hatte anschließend Selbstmord begangen.
Susanne war 13 Jahre alt gewesen und kam nach der Tat zu einer Tante. Eine psychologische Betreuung war angeraten worden, ob sie durchgeführt worden war, konnten sie nicht nachvollziehen.
„Hier ist die Adresse von dem Haus, indem die Familie damals gelebt hat“, sagte Peter. „Wollen wir hin?“
Annie nickte und schnappte sich ihre Jacke und Tasche.


Das Grundstück war in einem schlechten Zustand. Das verrostete Eingangstor hing schief in den Angeln und stand offen. Der Garten war verwildert und mit Müll übersät. Vor die Fenster des zweigeschossigen Hauses waren Holzbretter genagelt worden, um Eindringlinge fernzuhalten. An den Rahmen platzte der Lack ab. Die Eingangstür war fest verschlossen.
Sie gingen um das Haus herum, um zu schauen, ob es eine andere Möglichkeit gab hineinzukommen.


Sascha spürte, dass sie sich bewegte und den Kopf von seinem Schoß nahm. Er öffnete die Augen und sah tiefe Schwärze.
„Ich habe was gehört“, flüsterte sie.
Ihre Stimme entfernte sich „Sie sind hier, um dich mir wegzunehmen. Sie suchen nach dir, jetzt sind sie gekommen.“
In Sascha keimte Hoffnung auf. Hier war jemand, es kam jemand, um ihm zu helfen.
„Sie sind an der Terrassentür.“
Sie entfernte sich von ihm und war dann wieder näher dran.
„Ich lasse nicht zu, dass sie und trennen!“
Sie würde doch jetzt nicht irgendeine Dummheit machen? Dem Beispiel ihres Vaters folgen? Sascha schrie. Er schrie so laut er konnte, er schrie um Hilfe.


Auf der Terrasse hinter dem Haus war es ziemlich dunkel. Die Straßenlaternen spendeten hier nur noch wenig Licht. Sie schalteten beide ihre Taschenlampen ein, um sehen zu können, wo sie lang liefen.
Am Boden lagen die Scherben zerbrochener Blumentöpfe. Es knirschte, wenn sie drauf traten.
„Wir können nicht einfach so da eindringen, wenn ...“
Annie und Peter hörten Schreie aus dem Inneren.


Susanne versetzte ihm einen Schlag gegen die Brust, der ihm die Luft aus den Lungen presste. Sie rammte ihm etwas in den Arm, eine Spritze. Er konnte spüren, wie ihr Inhalt sich den Weg durch seine Venen suchte. Sie löste seine Fesseln, nicht von seinen Handgelenken, sondern von dort, wo sie sie festgemacht hatte.
Er versuchte, sich zu wehren. Aber sie riss an ihm, an den Ketten, an seinem Körper. Eine bleierne Schwere überkam Sascha.
„Komm mit!“, befahl sie ihm. Zog ihn auf die Beine, griff ihm unter die Arme und schleppte ihn vorwärts.


Annie telefonierte, um Verstärkung anzufordern. Dann zogen sie und Peter ihre Waffen.
Die Terrassentür aufzubekommen war schwer, aber irgendwann gab sie nach und sie konnten in das Haus.
Sie gelangten in die Küche, an der Seite war ein kleiner Hauswirtschaftsraum, ein Flur.
Vorsichtig, die Waffen im Anschlag, die Taschenlampen leuchtend, immer auf der Hut, bewegten sich Annie und Peter durch die untere Etage. Sie hatten keine Ahnung, wie gefährlich Susanne war, und waren auf alles gefasst.
Bevor die beiden in das nächste Zimmer gehen konnten, war das Blaulicht herbeieilender Polizeiwagen durch die Ritzen der Bretter vor den Fenstern zu erkennen. Mit wenigen Stößen wurde die Vordertür aufgebrochen und weitere Beamte stürmten in das Haus.


Er konnte Lärm hören, das Splittern von Holz, Füße, die über den Boden eilten, Stimmen, Rufe. Sascha hatte keinerlei Orientierung, er wusste nicht, wo er war, wo all die Geräusche herkamen oder wo sie hingingen.
Sie zog ihn mit sich, hatte ihn fest gepackt, so fest, dass er einen stechenden Schmerz in den Rippen spürte. Er stolperte hinter ihr her. Spürte nichts und alles, wusste nicht einmal, ob er lief, oder sie ihn nur mit sich riss. Er wollte sich wehren, aber es ging nicht.
„Ich bring dich hier raus, ich bring dich in Sicherheit. Sie werden uns nicht kriegen. Ich lasse es nicht zu!“
Ihre Stimme dröhnte in seinem Kopf. Er wollte nicht, er konnte nicht. Er konnte nicht mehr!
Sascha sackte in sich zusammen.
„Sascha, nein! Du musst mit mir mitkommen.“
Er fühlte ihre Hände, wie sie versuchte, ihn wieder auf die Füße zu ziehen. Schritte näherten sich ihnen.
„Sascha“, ihre Stimme war ganz dicht an seinem Ohr, „Ich werde dich holen kommen, ich verspreche es dir.“ Dann ließ sie ihn los.


Annie rannte mit ein paar Beamten die Treppe hinauf. Sie stürmten auseinander und teilten sich auf, die oberen Räume zu durchsuchen.
In einer Ecke sah sie etwas. Vorsichtig ging sie ein wenig näher heran. Da saß jemand auf dem Boden.
Sie packte ihre Waffe fester und ging auf die Person zu.
Es war eine männliche Gestalt. War er das? Er rührte sich nicht. Annie hockte sich zu ihm und leuchtete ihm mit der Taschenlampe in das Gesicht.
„Sascha Renov?“, fragte sie.
Der Mann schlug die Augen auf. Die Iriden waren ganz trüb, die Pupillen verkleinerten sich nicht, obwohl helles Licht auf sie fiel.
Er packte ihren Arm.
„Bitte nicht“, flehte er, „ich kann nicht mehr.“
„Sascha, ich bin Annie Maischel, ich bin von der Polizei. Wir sind hier, um Sie rauszuholen.“ Er konnte nichts sehen! Er schloss die Augen wieder und ließ sie los.
Sein Zustand war erbärmlich. Sie nahm seine Hand.
„Ich werde Hilfe holen.“
Sie wollte aufstehen, aber er hielt sie fest.
„Bitte lassen Sie mich nicht alleine. Sie ist hier irgendwo.“
Er klang so verzweifelt, dass es Annie leidtat. „Es sind ganz viele Beamte im Haus, sie sind in Sicherheit.“
Der Druck seiner Hand ließ nach, und sie lag nun kraftlos in ihrer.


Sascha Renov wurde ins Krankenhaus gebracht.
Von Susanne Wischniewski fehlte jede Spur. Ein Polizeibeamter hatte ein geöffnetes Fenster gefunden, von dem aus man auf das Dach der angrenzenden Garage gelangen konnte.
War Susanne auf diesem Weg geflüchtet?
In dem Haus befand sich nicht viel, ein paar Lebensmittel standen in der Küche, ein Sofa im Wohnzimmer. In einem der Zimmer in der oberen Etage befand sich ein Bett, dessen Matratze auf dem Boden an der Wand lag. Heizungsrohre liefen hier entlang.
Ein paar Kleidungsstücke, Medikamente, auch die von Sascha Renov und diverse andere. Einwegspritzen, zum Teil unbenutzt, einige in einem Mülleimer entsorgt, Verbandsmaterial, eine kleine Flasche Wasserstoffperoxid und andere Dinge, wurden sichergestellt.
Die Spurensicherung untersuchte alles akribisch, nahm Fingerabdrücke und Proben.


Später fuhren Annie und Peter ins Krankenhaus. Dort unterhielten sie sich mit einem der behandelnden Ärzte. Sie erfuhren, dass Sascha Renov etliche Hämatome, Abschürfungen, zwei gebrochene Rippen, einen gebrochenen Finger und vier Schnittverletzungen hatte. Ebenfalls, dass sie in seinem Blut einen heftigen Mix aus Drogen und Medikamenten nachgewiesen hatten.
Das größte Problem war sein Sehvermögen. Susanne hatte ihm eine schwache, säurehaltige Substanz in die Augen geschüttet. Nach Rücksprache gingen die Ärzte von Wasserstoffperoxid aus, das frei verkäuflich in Apotheken zu erhalten war.
Ein Facharzt für Augenheilkunde hatte sich der Schädigung angenommen. Sascha Renov würde nie wieder die volle Sehfähigkeit erlangen. Der Arzt ging davon aus, dass es ihm jedoch möglich sein würde, starke Kontraste zu erkennen.

Nun war es an ihnen Susanne Wischniewski zu finden.
Die Fahndung lief auf Hochtouren. Sie war tatsächlich über das Garagendach geflohen. Wie sie vom Haus weggekommen war, obwohl es dort vor Beamten nur so gewimmelt hatte, war nicht klar.

Zwei Mal, besuchte Annie Sascha Renov im Krankenhaus. Er war noch nicht ansprechbar, aber das war ihr egal.
Sie hatte einen Antrag auf Einsicht in die asservierten Beweismittel aus dem Mord an Heike Wischniewski gestellt. Trotz der Dringlichkeit mahlten die Mühlen des Gesetzes langsam. Susannes Tante war bereits vor drei Jahren verstorben, weitere Verwandte waren nicht vorhanden.

Als Sascha vernehmungsfähig war, fuhr sie alleine zu ihm. Peter hatte andernorts zu tun.
Im Krankenhaus traf sie auf Katarina, mit der sie bei einem Kaffee ein paar Worte wechselte. Annie erfuhr, dass Sascha sich weigerte, Hilfe anzunehmen. Er bagatellisierte seine Situation, das ärgerte sie.
„Ich denke, er braucht sicher noch ein wenig Zeit, bis er begreift, was geschehen ist. Verdrängung ist eine ganz natürliche Reaktion“, erklärte sie der jungen Frau.
„Er verdrängt viel zu viel und viel zu lange“, antwortete Katarina.
„Versprechen Sie mir auf ihn aufzupassen und diese Frau zu finden?“, bat sie Annie, als sie sich verabschiedeten. Annie nickte.

Sascha stand am Fenster. Sie grüßte den uniformierten Beamten, der vor dem Zimmer positioniert war, und klopfte leise an die geöffnete Tür. Er drehte sich um.
Der Verband, den er bei ihrem letzten Besuch über den Augen gehabt hatte, war weg.
„Hallo“, begrüßte sie ihn, „ich bin Annie Maischel.“
„Die Polizistin.“ Er lächelte.
„Die Kriminalkommissarin“, sagte sie freundlich.
Ihn zu fragen, wie es ihm ging, war überflüssig, denn man sah es ihm an.
Er war blass und sah mitgenommen aus. Die Haut, rund um die Augen war stark gerötet und das Grün der Blutergüsse im Gesicht und an den Armen leuchtete ihr entgegen.
„Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten“, sagte sie.
Er nickte. „Können wir das draußen machen? Ich glaube, es ist ein schöner Tag heute.“
Sie hatte nichts dagegen.


Unsicher ging Sascha ein paar Schritte. Er hatte Angst, irgendwo gegen zu stoßen. Er spürte plötzlich die Polizistin an seiner Seite. Sie hakte sich bei ihm ein und drückte ihren Körper seitlich an seinen. So 'führte' sie ihn in den Park des Krankenhauses.
Es war keine Handlung aus Mitleid, es wirkte bei ihr ganz selbstverständlich und dafür war Sascha sehr dankbar.
„Erzählen Sie mir, was geschehen ist“, bat sie ihn.


Sie war erschrocken über die Art, wie er über sein Martyrium sprach. Es war ein emotionsloser Bericht der Vorkommnisse, so, als würde er über jemand ganz anderen, ihm unbekannten reden. Vielleicht war das seine Art, damit fertig zu werden.

Als er fertig war, liefen sie einen Augenblick schweigend nebeneinander her.
Dann fragte er: „Haben Sie eine Spur von ihr?“
„Nein“, antwortete Annie, „bisher noch nicht.“
„Ich habe Angst“, sagte Sascha Renov ganz leise.


Sascha konnte am darauf folgenden Tag das Krankenhaus verlassen. Er kehrte in ein Haus zurück, das von Reportern und Neugierigen belagert wurde.
Das Interesse der Medien an seiner Familie und ihm kannte er bereits seit frühster Kindheit. Mal war sie stärker, mal war sie schwächer. Normalerweise konnte er gut damit umgehen, jetzt störte es ihn.
Nicht mehr richtig sehen zu können, eigentlich beinahe gar nichts mehr, war viel schlimmer, als er zugeben wollte. Diese ganzen Geräusche, die Eindrücke, alles war unglaublich anstrengend. Der Augenarzt hatte gesagt, dass es möglich sei, dass sich seine Sehfähigkeit noch ein wenig verbessern würde. Super, dann wäre seine Schwester vielleicht irgendwann nicht mehr ein undefinierbarer Fleck, sondern ein seltsamer Schatten.
Außerdem hatte dieser ganze Mist auch Spuren auf seiner Seele hinterlassen. Obwohl er wusste, dass vor und auch im Haus Polizisten waren, die aufpassten, hatte er Angst, diese Stimme würde wiederkommen. Sie hatte es ihm versprochen.


„Ich finde es aber schon bemerkenswert, dass Sie ihren Traum aufgegeben und die Firma nicht verkauft haben“, sagte Annie, die ihm geholfen hatte, aus der Villa zu 'fliehen' und nun neben ihm an einem Tisch in einem Bistro saß.
„Ich weiß nicht, ob es wirklich so bemerkenswert ist.“
„Andere hätten die Firma führen können.“
„Ich war einfach derjenige, der am wenigsten zu verlieren hatte.“
„Die Fotos im Büro sind von Ihnen?“
Er nickte.
„Sie sind wunderschön.“
Sascha lächelte. „Danke.“
„Haben Sie schon eine Ahnung, wo sie ist?“ Vor dieser Frage hatte sich Annie gegrault. Nein, hatten sie nicht. Mittlerweile hatte sie die Asservate vom Heike-Wischniewski-Fall durchgesehen, aber nichts gefunden, was sie weitergebracht hätte.
Sie war sich so sicher gewesen, dort einen Hinweis darauf zu finden, wo Susanne sein könnte.

Als sie zurück zum Auto gingen, griff Annie seine Hand. Es war, trotz der Umstände nett, mit Sascha gewesen. Irgendwann hatte es den Anschein gemacht, als hätte er vergessen, was geschehen war, und sie hatte den charmanten, netten und amüsanten Mann kennengelernt, von dem alle sprachen. Seine Hand zu halten, erfüllte natürlich rein den Zweck ihm zu helfen, trotzdem musste sie sich eingestehen, dass es bei Weitem nicht unangenehm war. Er gefiel ihr, einer der begehrtesten Junggesellen war gerade dabei, auch ihr Herz zu erobern.

Annie wollte ihn bis zur Hintertür, durch die sie auch schon das Haus verlassen hatten, bringen.
Vorhin hatten sie nur an dem Polizisten vorbei gemusst, der an dem unscheinbaren Eisentor Wache hielt. Jetzt standen auch hier Schaulustige und Journalisten.
Sie versuchte Sascha vor den Leuten abzuschirmen und mithilfe weiterer Kollegen gelang es ihr schließlich ihn auf das Grundstück zu bringen.

„Nächstes Mal sollten wir dann die Kohlenrutsche nehmen“, sagte Sascha grinsend.
„Die was?“
„Die Kohlenrutsche in unserem Kohlenkeller. Als ich ein Kind war und Hausarrest hatte, bin ich immer über diese Rutsche getürmt. Der Raum war schon jahrelang ungenutzt und fast vergessen. Bis mein Vater es spitzgekriegt und die Tür verschlossen hat. Keine Fluchtmöglichkeit mehr für den kleinen Sascha.“
Annie musste lachen.
„Aber das fällt wohl flach, ich weiß bis heute nicht, wo er den Schlüssel gelassen hat. Also ...“, nun verschwand das Grinsen, „ich danke Ihnen, dass Sie mich hier für ein paar Stunden raus geholt haben.“
Unsicher legt er seine Hand auf ihren Arm und hätte er sehen können, so hätte er ihr wahrscheinlich jetzt in die Augen geschaut, aber sein Blick ging ins Leere.
„Vielleicht können wir das ja mal wiederholen.“
Er gab ihr einen ganz sanften Kuss auf die Wange.

Noch im Auto glaubte sie, deutlich spüren zu können, wo Saschas Lippen sie berührt hatten. Es war, als würde diese Stelle glühen.


Sascha schreckte hoch und öffnete die Augen, aber alles um ihn herum blieb finster. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war. Dann hörte er das vertraute Schlagen der alten Standuhr im Flur und spürte die weiche Bettwäsche an seinem Körper, die den ganz leichten Duft von Lavendel verströmte.
Neben ihm bewegte sich etwas und ein Arm legte sich um seine Schultern.
„Was ist los?“
Die Stimme war ihm vertraut.
„Nichts, ich habe schlecht geträumt.“ Er lachte auf. „Ich habe geträumt, dass alle die ich liebe gestorben sind und, dass ich entführt wurde und blind war.“
Der Arm drückte ihn zurück in das Kissen.
„Ein dummer Traum, vergiss ihn einfach. Schlaf weiter, du musst morgen ausgeruht sein.“
Sie streichelte ihm mit den Fingerspitzen über die Lippen und dann sang sie ganz leise, und es war beinahe nur ein Summen:
Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh ...


4. Kapitel


Annie war nicht nach Hause, sondern zur Dienststelle gefahren. Hier stand sie nun an ihrem Schreibtisch und verpackte die Beweismittel des Heike-Wischniewski-Falls sorgfältig, um sie morgen wieder in die Asservatenstelle bringen zu lassen.
Dabei fielen ihr einige zusammen getackerte Zettel in die Hände, die sie zuvor übersehen haben musste. Sie schaute sie sich an.

Es war eine Vermögensaufstellung von Heike Wischniewski. Viel hatte die Familie nicht besessen, jedoch waren hier auch die Einkünfte aus ihrer Tätigkeit vermerkt.
Annie schob den Karton zur Seite, setzte sich und legte die Papiere vor sich. Da war etwas. Sie suchte sie in ihren Notizen nach der Telefonnummer von Ingrid Heintzen, der Hausangestellten der Renovs. Es war zwar schon recht spät, das hier musste sofort erledigt werden.
Während sie darauf wartete, dass am anderen Ende abgenommen wurde, betete sie, dass Frau Heintzen ihr Auskunft geben konnte. Am Tag ihrer Befragung hatte sie angegeben, dass sie bereits seit 35 Jahren für die Familie arbeitete. Sie musste sich erinnern!

„Heintzen“, meldete sich die verschlafen klingende Stimme der Frau.
„Frau Heintzen, entschuldigen Sie die späte Störung. Hier ist Annie Maischel von der Kripo.“ Schweigen am anderen Ende, dann: „Frau Maischel, was kann ich für Sie tun?“
Die Stimme klang nun hellwach.
„Ich habe eine wichtige Frage an Sie: Kommt Ihnen der Name Heike Wischniewski bekannt vor?“
Wieder Stille am anderen Ende.
„So wie es aussieht, hat sie vor etwa dreizehn Jahren als Putzkraft für die Renovs gearbeitet.“ „Ja“, kam eine Antwort, „an eine Heike kann ich mich erinnern. Zu der Zeit hatten wir immer mal Aushilfen hier in Anstellung. Und warten Sie mal, doch, ich kann mich sogar genau daran erinnern. Heike hat etwa ein Jahr hier gearbeitet, ist dann einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen. Das war sehr schade, sie hat gute Arbeit geleistet. Wir anderen waren ein wenig böse darüber, dass sie sich nicht einmal mehr gemeldet hat. Wir hatten uns gut mit ihr verstanden.“
„Frau Wischniewski hat sich nicht mehr bei ihnen melden können, sie ist 2002 ermordet worden“, sagte Annie.
„Ach du meine Güte!“ Ein leiser Aufschrei.
„Hat man ihnen das nicht mitgeteilt?“
„Nein, wir wussten das nicht. Das ist ja furchtbar! Und was ist aus ihrer Kleinen geworden?“
„Meinen Sie ihre Tochter Susanne?“
„Ja, Heike hat sie heimlich, nach der Schule herkommen lassen, so lange, bis sie dann Feierabend hatte. Das war nicht gestattet. Nicht bei Aushilfen. Wir anderen haben aber nichts gesagt, die Kleine war, naja sagen wir mal, ein wenig zurückgeblieben. Heike hat sie nur ungern mit dem Vater alleine gelassen, ihr Mann hat getrunken.“

Annie musste schlucken, da war der Punkt, nach dem sie gesucht hatte, der Berührungspunkt von Sascha und Susanne.
„Was können Sie mir noch über Susanne erzählen?“, fragte sie.
„Sie war sehr lebhaft, es war nicht leicht, sie hier im Haus ständig unter Kontrolle zu halten.“ Man konnte hören, dass Frau Heintzen bei dem Gedanken lächelte.
„Wir haben sie dann einfach machen lassen. In der Zeit, in der Heike hier gearbeitet hat, war ja keiner der Renovs im Haus. Die Kinder waren auf Ganztagsschulen, Herr Renov war in der Firma und Frau Renov war ehrenamtlich tätig, oder anderweitig unterwegs. Suse hat manchmal ein wenig geholfen und hat das Haus und den Garten erkundet. Wir hatten sie ja immer im Blick. Damals waren wir hier mehr als heute.“

Sie sprachen noch ein wenig miteinander, auch über Sascha, wie es ihm ging, dass sie Journalisten vor der Tür weniger wurden, was Frau Heintzen sehr begrüßte, und verabschiedeten sich voneinander.

Annie war froh, als sie auflegen konnte, wollte sie doch jetzt die Informationen ordnen.
Wenn Susanne ihre Zeit in der Villa verbracht hatte, und sich dort frei hatte bewegen können, so war nun auf jeden Fall klar, wie sie an einen Teil der persönlichen Dinge von Sascha hatte kommen können. Auch ihre Andeutung, sie sei schon viel länger in seiner Nähe, als er glaubte, ergab jetzt einen ganz anderen Sinn.
Aber wo war sie?
Annie starrte auf den Bildschirm ihres Computers und ihre Gedanken schweiften ab, zu Sascha, zum Nachmittag, den sie miteinander verbracht hatten.
Sie war in der Villa!


„Es wird bald alles gut sein“, flüsterte Susanne.
Sie spürte den kalten Schweiß auf Saschas Haut. Er hatte versucht, sich zu wehren, aber sie war stark genug, es zu verhindern.
Sie war nicht eine von diesen dürren, schwachen Tussis, sie hatte Kraft. Die Liebe zu ihm ließ sie noch stärker werden.
Seine Atmung ging unregelmäßig, bald, bald hatte er es geschafft.
Wie gut es jetzt doch noch gelaufen war. Sie hatten versucht, ihr Sascha wegzunehmen, aber sie liebte ihn doch schon so lange, sie hatte ihn schon geliebt, als sie ihm noch nicht einmal begegnet war.

All die Fotos von ihm, auf denen er so lieb gelächelt hatte, die, die sie hier im Haus entdeckt hatte. Und als sie ihm dann wirklich gegenübergestanden hatte, nachdem sie von ihrer Tante weggegangen war, und mit ihm gesprochen hatte, nur ganz kurz, da hatte sie gewusst, dass er wirklich so nett war. Sie hatte es sich genau so vorgestellt, wenn sie seinen Pullover in den Armen gehalten hatte.
Auf ihren Erkundungstouren, damals, hier durch die tolle Villa, hatte sie die verschlossene Tür im Keller entdeckt.
Sie war neugierig gewesen und von dem Tag an, war sie auf der Suche nach dem Schlüssel gewesen. Was war das für eine Überraschung, als sie ihn zufällig in einer kleinen Kiste, in einem der Regale im Keller gefunden hatte.
Hinter der Tür verbarg sich ein Kohlenkeller. Sie hatte auch die Rutsche entdeckt. Nun hatte sie immer kommen und gehen können, wie es ihr gefiel.

Der Job in der Apotheke war wirklich ein Glück gewesen, nun hatte sie mit Sascha reden können, wenn er kam, um seine Medikamente zu holen.
Was ihr gar nicht gefallen hatte, war die Sache mit seiner Freundin, aber das hatte sich zum Glück von alleine erledigt.
Danach hatte sie ihn wieder ganz für sich alleine gehabt, bis diese Blondine aufgetaucht war. Er hatte behauptet, es sei nie etwas zwischen ihnen gewesen, aber Suse wusste, dass das nicht stimmte. Sie hatte den Blick dieser Frau gesehen.
Eigentlich hatte sie sich alles so gut überlegt gehabt, und dann war es schief gelaufen.
Nachdem sie mit dem Fahrrad von ihrem Elternhaus geflohen war, hatte sie sich sofort, hier in der Villa, versteckt. Lebensmittel hatte sie aus der Küche gestohlen.
Jetzt war sie froh, dass sie gleich hier hergekommen war, denn mittlerweile wimmelte es hier nur so vor Polizei, aber sie hatten sie nicht entdeckt.

Eigentlich hatte sie warten wollen, bis sich alles ein wenig beruhigt hatte, aber dann hatte sie vorhin beobachten können, wie er diese Frau auf die Wange geküsst hatte, wie er sie angefasst hatte. Da hatte sie gewusst, dass es keinen anderen Weg gab, dass ihr Vater es richtig gemacht hatte, als ihre Mutter ihm gesagt hatte, dass sie ihn verlassen würde.
Es gab einen lauten Knall und die Tür sprang auf. Das Licht wurde angeschaltet und im selben Augenblick hörte sie die Rufe: „Polizei! Bleiben Sie, wo sie sind!“


Sie blieb nicht, wo sie war, sie sprang aus dem Bett und riss Sascha mit sich. Annie zielte mit ihrer Waffe auf sie. Zu ihrer Verwunderung hielt auch Susanne eine Pistole in der Hand, die sie auf Sascha richtete.
Die Waffe, die Susannes Vater für seinen Selbstmord benutzt hatte, war nie gefunden worden, ging es ihr durch den Kopf.
„Machen Sie keinen Dummheiten Susanne. Wir können Ihnen helfen, legen Sie die Waffe weg!“
Peter stand an ihrer Seite und steckte seine zurück in das Holster, um der Frau zu zeigen, dass sie verhandlungsbereit waren.
Annies Blick ging zu Sascha, der leichenblass, schwer atmend und zitternd neben Susanne Wischniewski stand. Seine Lippen waren ganz blau und Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
„Sie lügen!“, schrie die junge Frau. „Sie wollen ihn mir wegnehmen!“
Peter ging einen Schritt auf die beiden zu, aber Susanne packte Sascha noch fester und drückte ihm die Pistole an die Schläfe. Peter blieb stehen.
Seine Atmung war ganz flach und unregelmäßig. Er stöhnte auf, hatte Krämpfe, er zitterte am ganzen Körper.
„Sascha“, rief ihm Annie zu, „bitte halten Sie durch. Alles wird gut.“


Er sah Annie, er sah ihren Kollegen und andere Polizisten. Er hatte sie gehört, er hatte verstanden, was sie gesagt hatte, er wollte ihr antworten, oder nicken, oder es ihr irgendwie anders zeigen. Sein Gehirn arbeitete daran. Er hatte einen bitteren, brennenden Geschmack im Mund. Er bekam kaum Luft. Ihm war kalt, unglaublich kalt und er hatte Krämpfe, sie wurden immer stärker. Er wollte schreien, aber ebenso wenig, wie er Annie antworten konnte, kam dieser Schmerzensschrei über seine Lippen. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust.


„Susanne legen Sie die Waffe nieder!“, forderte Annie sie auf.
„Was tun Sie, wenn ich es nicht mache?“, fragte die Frau. „Erschießen Sie mich dann?“
Sie schaute mit großen Augen, so als könne sie das nicht glauben. Wie ein kleines Kind, mit dem man schimpfte. Dann trat jedoch eine Härte und Entschlossenheit in ihr rundes Gesicht. Sie ließ Sascha los und griff mit ihrer freien Hand in die Hosentasche.
Annie wollte fast abdrücken.
Susanne holte etwas hervor und steckte es sich in den Mund.
„Was tun Sie da?“
„Für Sascha wird das hier bald zu Ende sein, und in etwa zehn Minuten für mich auch. Dann kann uns niemand mehr trennen. Dann sind wir immer zusammen, so wie meine Mama und mein Papa“, gab sie zur Antwort.

In dem Moment, indem Sascha Renov zusammenbrach, erschoss Annie Maischel, Susanne Wischniewski.


Epilog


Annie hatte ihre Waffe abgegeben und dann dabei zugesehen, wie die herbeieilenden Notärzte um das Leben von Sascha und auch um das von Susanne gekämpft hatten.
Schnell war klar, dass sie ihn und auch sich, mit der Knolle des Blauen Eisenhuts vergiftet hatte. Die Pflanze wuchs sogar hier auf dem Grundstück.
Susanne hatte den Kampf verloren, Saschas Zustand konnte stabilisiert werden, sodass er ins Krankenhaus gebracht werden konnte.

Sein Zustand blieb kritisch. Annie verbrachte viel Zeit an seiner Seite. Sie war beurlaubt, bis das Verfahren gegen sie beendet war.
Sie saß an Saschas Bett und starrte auf die ganzen Maschinen, an die er angeschlossen war, als sie merkte, wie sich seine Hand bewegte, und ganz vorsichtig nach ihrer griff. Er drehte den Kopf ein wenig zu ihr und schlug die Augen auf.
Sie war so erleichtert, dass ihr die Tränen kamen. Ihre Stimme zitterte, als sie leise sagte. „Es ist vorbei, sie wird nie wiederkommen.“
Sascha hatte einen Beatmungsschlauch im Mund, trotzdem konnte sie ein Lächeln erkennen.

Ärzte und Schwestern kamen herein und baten sie, kurz draußen zu warten. Annie wollte das Zimmer verlassen und stieß an der Tür auf Peter, der einen Arm um sie legte. Gemeinsam gingen sie den Krankenhausflur entlang.
„Es ist wohl mein Fluch“, sagte er. „Du wirst die nächste Frau sein, die mich für einen jüngeren, reicheren und besser aussehenden Mann verlässt.“
Er grinste und drückte sie freundschaftlich an sich.